Das an einem Wettkampftag mit einem langen Radmarathon frühes Aufstehen angesagt ist, ist ja nicht ungewöhnlich. L’Eroica ist aber ein ganz besonderes Event und ich kann überhaupt nicht abschätzen was da wirklich auf mich zukommt. So schließe ich mich den anderen 209km-Fahreren unserer Gruppe an und will um 5 Uhr starten.
So kommen ungefähr vier Stunden Schlaf zusammen bevor ich mich in ins Retro Wolltrikot zwänge und erst mal zum Cafe gegenüber gehe um italienisch zu frühstücken, ein Cappuccino und ein Brioche. Dabei kann ich schon die anderen Fahrer und vor allem Fahrräder beobachten die bereits zum Start rollen.
Zum Glück liegt unser Appartement zentral in der Fußgängerzone von Gaiole, also auch quasi direkt am Start. Da es keine Zeitmessung gibt, sondern im „Randonneurstil“ gestempelt wird, gibt es keinen Massenstart sondern ein Zeitfenster in dem gestartet wird.
Ich finde auch die anderen Jungs gleich, obwohl jetzt um fünf Uhr doch schon einige hundert am Start stehen. Man gibt seine Startkarte ab, bekommt den ersten Stempel auf die Karte, ein prüfender Blick des Offiziellen auf das Fahrrad, ob es auch den geforderten Kriterien entspricht, und dann darf man losfahren.
Ich starte den Garmin. Ich hatte erst überlegt ob ich den ins Trikot stecke, denn Retro ist ein moderner Radcomputer ja nun wirklich nicht, aber ich hab‘ ihn am Lenker gelassen. Auch bei den Schuhen setze ich auf modernes Material, die bei ebay bestellten Uraltradschuhe sind nicht gekommen und auf dem Markt habe ich keine passenden gefunden. Retroschuhe im L’Eroica Shop waren mir mit ca. 300,- EUR für einen Eintagesspaß einfach zu teuer. Auch die Hose ist eine moderne, wenn auch sehr abgenutzte, die Wollhosen die man kaufen kann hatten alle moderne Polster, also richtig retro mit Hirschleder ginge sowieso nicht.
Anyway, die theoretisch geforderte reflektierende Jacke lasse ich weg, was auch nicht moniert wird. Ich möchte diesen Radsporttag so erleben wie ich ihn 1980 erlebt hätte. Auch meine Übersetzung habe ich dementsprechend nicht entschärft. Ich fahre die klassische Bergübersetzung von 42-23. Klingt brutal, ist es auch. Selbst das neu aufgelegte Eroica-Rad von Bianchi ist ein „old bike for new legs“ wie der Bianchi Mann am Stand sagte. D.h. vorne 36 und hinten 29, also eine wirklich moderne Bergübersetzung.
Ich will es aber so erleben wie ich es 1980 erlebt hätte, also werde ich auch mit der brutalen Übersetzung fahren. Ich nehme mir vor auf den ersten 100 Kilometern nicht zu schieben, auch wenn es auf Schotter 15% berghoch gehen sollte. Ob ich das umsetzen kann wird sich zeigen. Ich habe wirklich gehörigen Respekt vor der Strecke.
Die Übersetzung birgt allerdings einen weiteren Nachteil. Um nämlich halbwegs damit zurechtzukommen und die Kadenz in vernünftigem Rahmen zu halten muss ich eine bestimmte Mindestgeschwindigkeit fahren. So kann ich eigentlich nur die ersten Kilometer im Flachen noch mit den anderen aus der Gruppe mitfahren und muss dann, sobald es ein bisschen bergauf geht meinen eigenen Rhythmus fahren.
Um viertel nach fünf habe ich meinen Startstempel bekommen und die Temperatur liegt so um 15°, also recht angenehm. Es ist trocken und das Rad läuft super. Die Atmosphäre mit den kleinen Lichtkegeln in der Dunkelheit auf gutem Asphalt ist klasse.
Meine oben beschriebene Mindestgeschwindigkeit liegt doch deutlich über dem was die übrigen Starter gerade fahren und so hangele ich mich von Gruppe zu Gruppe, auch weil mein Frontlicht eine reine Positionslampe ist und ich den Lichtkegel der anderen Fahrer brauche.
Ich fahre aber sehr gerne im Dunkeln, da man da einfach das Rad so schön spürt und ich viel sicherer fahre, gerade in Abfahrten. Allerdings geht es hier jetzt erst mal bergauf. Zwar noch sanft, aber da ich 42-23 fahre liegt mein Puls die ganze Zeit deutlich über 170, was für mich schon ziemlich in Richtung Maximalpuls geht. Oje, ob ich da überhaupt bis zur ersten Verpflegungsstation komme?
Bei Brolio kommt dann auch schon der erste Schotterabschnitt. Den konnte ich auf der Ausfahrt vorgestern schon mal testen, ist nicht so steil, aber ich muss natürlich mein Tempo durchziehen, so dass ich mich schon mal etwas durchsetzen muss, wenn vor mir welche gemütlich nebeneinander fahren. Ich komme aber gut hoch.
Dann die erste Abfahrt auf Schotter. Zum Glück fahren wir ja auf Stahlrädern und Stahl hat wunderbar dämpfende Eigenschaften, die man den Carbonrahmen ja erst in den letzten drei Jahren wieder beigebracht hat. Mit so einem bocksteifen Alurad möchte ich hier wirklich nicht runterfahren.
Im Dunkeln ist es durchaus abenteuerlich, aber der nächste Asphaltabschnitt folgt bald. Obwohl ich auf der langen, also der anspruchsvollsten, Strecke fahre ist der sportliche Ehrgeiz der Teilnehmer eher begrenzt. Es bilden sich keine schnellen Gruppen, ich fahre immer noch mein „Mindesttempo“, den Puls im 170er Bereich, folglich fahre ich an immer mehr Fahrern vorbei und das Feld wird dünner und dünner obwohl sehr viele Fahrer vor uns gestartet sind.
Die Ausschilderung ist nicht gerade spektakulär, die permanenten L’Eroica Schilder werden manchmal durch rote Pfeile ergänzt, in der Dunkelheit sind die aber nicht sonderlich gut zu sehen. Und nachdem ich mittlerweile kaum noch Fahrer um mich herum habe und die Frontlichtfunzel nur fahles Licht auf den Asphalt strahlt verpasse ich prompt einen Abzweig.
Zum Glück merke ich es recht schnell, so dass kaum mehr als ein Extrakilometer anfällt. Dafür geht es dann auf der korrekten Strecke wieder über Schotterstraße. Sie lässt sich eigentlich gut fahren und ich bin jetzt etwas mutiger und habe nicht mehr soviel Angst um die Reifen. Denn Schlauchreifen wechseln wäre echt unschön, auch wenn ich es mir von Bernd gestern nochmal habe erklären lassen. Aber wenn man es noch nie gemacht hat…
Aber 1980 wäre ich mit Sicherheit mit Schlauchreifen gefahren. Zwei Ersatzreifen habe ich mir umgehängt, sieht dann zwar eher Fifties mäßig aus, aber sonst konnte ich die nirgends unterbringen, denn ich nutze natürlich nur 0,5 L Flaschen und brauche dementsprechend zwei, so dass auch der zweite Flaschenhalter als Aufbewahrungsalternative wegfällt.
Die Schotterstraße führt jetzt bergab und ich habe erstmals einen eher schnellen Fahrer vor mir, wir lassen es richtig laufen, und dann dreht die Rechtskurve doch deutlicher ein als gedacht und der vor mir fährt ins Gras, ich schaffe es gerade noch auf der Strecke zu bleiben, muss aber ordentlich kämpfen und lege einen leichten Powerslide hin. Puh, jetzt bin ich wach, aber wenn’s gut geht macht’s auch Spaß.
Der Straßenbelag wechselt wieder und auf Asphalt fahren wir nun auf Siena zu. Es fängt langsam an zu dämmern, und in Siena geht es dann sehr ordentlich bergauf. Der Streckenverlauf streift die Stadt nur, und kurz hinter Siena fährt man auf einem kleinen Hügelkamm mit schöner Aussicht. Die Sonne würde gerne aufgehen, aber der Himmel ist bewölkt, so dass nur ein gelblich rotes Glimmen zu sehen ist. Das schafft eine tolle Atmosphäre für unser heroisches Vorhaben.
Dann kommt auch schon der nächste Schotterabschnitt. Die Beine gehen gut, die Steigungen lassen sich mit der Übersetzung alle noch gut bewältigen, allerdings schaltet meine Schaltung unter starker Last auf dem kleinsten Ritzel gerne mal eins zurück, so dass ich dann mit 42-21 fahren muss. Ächz, da muss ich was machen. Ich beschließe bis zur Verpflegungsstation zu fahren und dort nach der Schaltung zu schauen.
Die Verpflegung ist auch bald erreicht, so ca. 50 Kilometer sind jetzt absolviert. Na das ging doch besser als erwartet. An der Mechanikerstation ist es komplett leer, so dass ich kurz dort anhalte und bevor ich erklären kann was mein Problem ist, hat der Typ schon die Zugspannung korrigiert und alles ist wieder gut. Respekt, ich wusste nicht, dass man das SEHEN kann.
Die Labstation ist tatsächlich so wie beschrieben, nämlich mit Rotwein (Wasser gibt’s auch) und toskanischen Spezialitäten. Nix Iso und Powerriegel. Sehr geil, es gibt Marmeladenbrote. Da haue ich mir einige von rein, genauso wie die mit Haselnusscreme und die Weißbrote mit Olivenöl. Topverpflegung! Es gibt aber nix wo man abstempeln kann, die Kontrollstation ist wohl separat und kommt später.
Weiter geht’s ein Stück auf Asphalt und dann kommt wieder Schotter. Sehr schöne Strecke, die führt dann auf ein Castell oder ein Wehrdorf zu und dann geht es richtig steil berghoch. Zum Glück bleibt der kleinste Gang jetzt drin. Ich muss aber brutal reintreten um den kleinen Anstieg hochzudrücken.
Oben ist dann die Stempelstation. Kurzer Halt, ich schnappe mir noch ein Wasser und trinke die 0,5er Flasche auf Ex.
Weiter geht’s, bergab erst auf Schotter, aber ok, dann geht es auf frischem Asphalt weiter in Richtung Süden. Ich habe sogar drei Mitstreiter, aber es gibt keine Gruppe, sondern die hängen sich ein bisschen dran und lassen dann reißen.
Es folgt ein erneuter Schotterabschnitt, der teilweise etwas ruppiger ist. Wieder auf Asphalt kündigt ein 15% Schild an was uns erwartet. Puh, hoffentlich komme ich da hoch. Sieht aus als ob sich der Anstieg etwas ziehen würde. Ich wünsche mir gerade mein Cannondale SuperSix Evo mit Kompaktkurbel und riesigem 32er Ritzel hinten herbei. Der Anstieg ist dann auch heftig zu fahren, aber es geht, obwohl er schon etwas länger ist.
Es gibt ja hier keine alpinen Anstieg, sondern die Landschaft ist sehr hügelig, die Anstiege sind bis jetzt von der Länge her immer noch machbar gewesen, ich hoffe, dass das so bleibt.
Die Straße flacht wieder ab, der Belag wechselt wieder auf Schotter, ist aber gut zu fahren. Im Feld häufen sich die Pannen. Praktisch alle paar hundert Meter oder zumindest alle paar Kilometer steht jemand am Straßenrand und flickt. Aber nicht nur Reifendefekte gibt es zu beklagen, sondern auch größere Probleme mit Schaltung oder Tretlager sind zu beobachten. Mehrmals sehe ich Fahrer am Straßenrand auf dem Tret- oder Innenlager rumhämmern. Das Material wird hier schon heftig beansprucht, ist außerdem ja mindestens dreißig Jahre alt und oft auch nicht so optimal in Schuss. Ich hatte bis jetzt Glück, außerdem ist das Rad ja komplett neu aufgebaut und gewartet.
Dann aber erwischt es mich doch. Der Reifen hinten ist platt. Mist! Die Luft ging schleichend raus, ich pumpe ihn einfach wieder auf und fahre weiter, ich hoffe ich komme bis zur nächsten Verpflegungsstation, da könnte ich mir von den Mechanikern mit dem Schlauchreifen helfen lassen.
Es geht nun in einen heftigen Anstieg mit 15% auf Schotter. Die Beine gehen immer noch gut, ich habe einen schönen Rhythmus und komme selbst die steilen Anstiege auf losem Untergrund gut hoch (Wenn auch teils mit Trittfrequenzen im einstelligen Bereich). Doch leider hält die Luft im Hinterreifen nicht lange, es hilft nichts ich muss den Reifen wechseln.
Für einen Schlauchwechsel beim Faltreifen brauche ich so drei, vielleicht fünf Minuten. Aber jetzt gilt es den Schlauchreifen zu wechseln. Ich habe Glück, der Verkäufer meines FullPro hat die Reifen mit Band geklebt. So bekomme ich den Reifen mit etwas Gewalt ganz gut runter und das Band von der Felge. Dadurch habe ich auch eine gute Grundlage um das neue Band zu kleben, was problemlos geht. Das Ganze dauert schon einen Moment, aber jetzt muss ich ja nur noch den Reifen aufziehen. Ich wurstele den „Conti Sprinter Gatorskin“ von der Schulter, pumpe ihn leicht auf und versuche das Ding aufzuziehen.
Puh, der ist wohl für 24“ Felgen gedacht, geht ja gar nicht. Ich mache ihn nochmal ab, ziehe mit Gewalt und Gefühl, komme aber nur bis zu den letzten zwanzig Zentimetern und die gehen um’s Verrecken nicht drauf.
Verzweiflung steigt in mir auf. Nochmal versuche ich es mit Gewalt und/oder Technik. Ich versuche den Reifen mit den Montierhebeln aus dem Multitool draufzuhebeln, keine Chance. Ich fluche auf den verdammten Reifen und versuche es nochmal mit lautem Stöhnen und aller Kraft die ich habe. Keine Chance. Wütend werfe ich die Felge und den Reifen in den Schotter der „Strade Bianchi“. Ein lautes F…Y… hinterher.
Da hält ein britischer Radfahrer an. „I will help you“, „I’ve done that too many times“ Der Typ ist nicht nur supernett, sondern auch gut 190cm groß und hat Hände wie Schraubstöcke. Er hat offensichtlich aber nicht nur Kraft sondern auch eine gute Technik, innerhalb von einer Minute hat er den Reifen auf der Felge. Cool. „You get it from here?“ „Yeah, sure, thank you“ „See you on the top“
Das war wirklich supernett, danke nochmal Andrew, leider habe ich dich nicht mehr gesehen im Verlaufe des Rennens oder hinterher, hätte dir gerne ein Bier ausgegeben.
Ich pumpe den Reifen auf so gut es geht, mehr als vier Bar kriege ich nicht rein. So muss ich den nächsten Streckenabschnitt eher verhalten fahren. Insgesamt verliere ich so knapp vierzig Minuten mit der Reifenpanne und nochmal etwas durch das langsame Fahren bis zur Verpflegungsstation, die Strecke bis dahin zieht sich nämlich noch. Und es gibt nicht nur sehr steile Anstiege auf Schotter zu meistern, sondern auch entsprechende Abfahrten.
Auch auf Asphalt geht es dann nochmal ordentlich berghoch und bergrunter, leider kann ich es nicht laufen lassen bevor ich nicht richtig Druck auf dem Reifen habe. Aber dann ist endlich die zweite Verpflegung erreicht, gerade als es anfängt zu regnen. Es ist so elf Uhr.
Ich fahre zunächst an die Mechanikerstation, die jetzt gut besucht ist, und pumpe den Reifen auf 8 Bar auf. Er scheint gut zu sitzen, alles ok. Dann stelle ich mein Koga Miyata FullPro neben ein gleich lackiertes Koga Miyata Pro Racer und ein goldenes Gents Racer.
Jetzt heißt es erst mal die Speicher auffüllen mit Marmeladen- und Olivenölbroten. Außerdem fülle ich die Flaschen auf und esse etwas Käse und Schinken. Vom Rotwein lasse ich allerdings die Finger…
Es regnet, aber zu lange will ich mich dort nicht unterstellen. Nachdem ich die leckeren Kohlenhydrate und Fette zu mir genommen habe geht es gleich weiter. Wolltrikots fühlen sich ja zum Glück nicht so nass an, so dass das mit dem Regen nichts macht, zumal er auch immer wieder aufhört oder zumindest schwächer wird.
Die Schotterabschnitte werden jetzt etwas schlammiger und die Straßen sind teils wirklich schlecht, mit Teer zwischendrin und sehr großen Schlaglöchern. Die Italiener sind schon schlau, nennen ihre schlechten Straßen und Feldwege einfach „Strade Bianchi“, was in deutschen Urlauberohren romantisch und sommerlich klingt und schon ist das ein Highlight statt ein Ärgernis…
Für meinen Geschmack könnten wir etwas mehr auf Asphalt fahren, ist schon sehr stark Fifties Feeling, so alte Heroen wie Gino Bartali und Fausto Coppi tauchen vor dem geistigen Auge auf. Ich bin ja eher 60er, 70er, 80er Jahre mäßig unterwegs, also so Merckx bis Hinault.
Anyway, die Beine gehen noch gut. Anfangs habe ich es ganz ordentlich im unteren Rücken gespürt, das ist jetzt aber komplett weg, körperlich geht es mir recht gut. Die Landschaft ist in diesem Abschnitt etwas grauer, bzw. brauner, weniger grün, was im Zusammenspiel mit dem Wetter eine interessant düstere Atmosphäre schafft.
Der Regen nimmt zu, auch ist es jetzt wieder etwas kühler geworden, nachdem zwischenzeitlich die Temperatur in Richtung zwanzig Grad ging, liegt sie nun wieder eher bei 15° C. Nach einem Anstieg auf Asphalt wechselt die Straße wieder auf Schotter und jetzt zunehmend schlammigen Weg. Ist aber noch ganz brauchbar zu fahren, vor allem im Flachen unproblematisch.
So arbeite ich mich bis zu nächsten Verpflegung vor. Die kommt früher als gedacht, denn nach dem Platten hatte ich etwas den Rhythmus verloren, ihn dann gerade wiedergefunden, als schon das Hinweisschild zur Verpflegungsstation kommt.
Passt aber trotzdem gut, denn es fängt jetzt richtig an zu schütten. Ich warte den Platzregen bei Suppe, Kuchen und Marmeladenbroten ab. Ich bin etwas erschüttert, als da wirklich welche lange Regenhosen anziehen! Ist doch kein Radwandern hier, Fausto Coppi wird sich im Grabe umdrehen. Ich ziehe es durch und mache mich weiter im Wolltrikot. Nass ist eh schon alles. Ich vergesse allerdings an der Station meinen Stempel zu holen, habe die Kontrollstation auch gar nicht gesehen.
Die Schotterstrecken werden jetzt durch den Regen teils doch recht übel. Vor allem kommen teils sehr sehr heftige Abfahrten auf Strecken die für den Cyclocrosser gerade noch gingen, selbst mit dem Mountainbike wäre der eine oder andere Streckenabschnitt eine anspruchsvolle Herausforderung. Zwei steile Abfahrten muss ich einfach laufen lassen, da es keine Chance zu bremsen gibt, was ich mit heftigen Schlägen im Rad und im Körper bezahle. Zwei weitere Abschnitte, die als Trialstrecken durchgehen, erfordern etwas anfeuern des Vordermanns der fast stehenbleibt, was ja im Schlamm gerade gar nichts nützt.
Zwei übermotivierte Sanitäter stellen ihr Fahrzeug mitten in eine enge Gefällstrecke, und machen es so noch viel schwieriger, vielleicht wollten sie auch einfach endlich Kundschaft…
Aber auch diese Passagen lassen sich meistern und die Anzeige auf dem Tacho geht mittlerweile auf die 150 Kilometermarke zu. Bis jetzt musste ich trotz der anspruchsvollen Strecke und meiner 70er Jahre Profiübersetzung noch nicht schieben, geil.
Schließlich kann ich die Mountainbikestrecke sturzfrei hinter mir lassen und erreiche auf Asphalt Asciano. Hier sind ja auch viele 135er unterwegs und prompt treffe ich auch Fred und Sanna aus der Gruppe.
Das Fahrrad hat jetzt doch etwas gelitten, die Beanspruchung für das Material ist brutal. Natürlich ist es komplett eingesaut. Ich wasche die Flaschen ab, damit ich beim Trinken nicht immer soviel „Strade Bianchi“ mit runterschlucken muss.
So argen Hunger habe ich eigentlich gar nicht, aber einige Marmeladen-, Olivenöl- und Nusscremebrote gehen doch.
Dann geht es weiter. Jetzt kommt wohl ein heftiger Abschnitt mit vielen steilen Schotterhügeln. Zunächst geht es aber auf Asphalt raus aus der Stadt. Die Schotterstrecke kommt aber schnell, und nachdem es anfangs noch machbar ansteigt, zieht die Steigung dann ganz schön an. Ich kämpfe mich auf der, teils feucht glitschigen, Schotterstraße nach oben, die 42-23 verlangt meinen Oberschenkeln alles ab. Nach jeder Kurve denkt man, man ist jetzt oben, doch es kommt nur die nächste Steigung, da klappt die Straße kurz vor Ende nochmal richtig nach oben. Ich kämpfe mit einer Trittfrequenz im einstelligen Bereich gegen den Hügel an, aber dann ist es vorbei, ich muss aus dem Pedal. Nach 151 Kilometer muss ich erstmals schieben. Zwar nur so 15 Meter, aber es gab keine Chance für mich im Sattel zu bleiben.
Weiter geht’s, so richtig Entspannung gibt es nicht und die Schotterstraßen gehen mir mittlerweile echt auf den Keks. Dann kommt auch schon der nächste Anstieg, und wieder wird es sehr sehr steil. Und wieder das gleiche, die Straße klappt kurz nach oben, Trittfrequenz zwei bis drei, dann rutsche ich aus dem Riemenpedal und es ist vorbei, nochmals muss ich zehn Meter schieben.
Wieder aufsteigen, und die letzten Meter der jetzt etwas flacheren Steigung fahren, etwas Entspannung, und dann komm der nächste Anstieg. Den schaffe ich aber wieder. Das Rad sieht ganz schön versaut aus, außerdem haben sich ein paar Speichen gelockert und die Schaltung quietscht.
Trotz meiner brutalen Übersetzung liege ich mit meinen Schiebeanteilen aber noch bei einer kleinen Minderheit. Die meisten schieben die kompletten Anstiege, die die hochfahren haben hinten 27er, 28er Ritzel und auch vorne kleinere Kettenblätter.
Am nächsten Berg muss ich eine längere Passage schieben, bestimmt hundert Meter, aber ich befinde mich in guter Gesellschaft. Die Sonne schaut gerade mal wieder etwas durch. Der Schweiß läuft mir in die Augen und brennt. Die Mütze ist längst vollgesaugt von Regen und Schweiß und hat ihre Aufnahmekapazität überschritten. Einen Moment kann ich nicht weitergehen, weil ich nichts mehr sehe. Nach zwei Minuten geht es aber wieder, gut, dass mir das nicht auf dem Rad passiert ist.
Ich laufe an einer rassigen Italienerin vorbei, lange radfahrgestraffte Beine, lange schwarze Haare, ein bildhübsches Gesicht, aber einen platten Hinterreifen und zwar Schlauchreifen, offensichtlich ohne Ersatz. Eine Gruppe kleiner Italiener schwänzelt um sie herum, allerdings alle ohne Schlauchreifen.
Ich habe noch einen Schlauchreifen dabei. Neben meinem natürlichen Helferinstinkt, und dem Gefühl die Hilfe von Andrew weitergeben zu wollen spüre ich ganz stark die Chance für einen Tag der Held dieser jungen Radfahrgöttin zu werden. Ich muss es aber abwägen gegen die Gefahr, dass ich dann bei eigenem Platten auf den immerhin noch fünfzig zu fahrenden Kilometern liegen bleibe und es nicht ins Ziel schaffe. Und sorry ragazza, aber selbst nach so einer durchwachsenen Saison brodelt noch zu viel Gier nach Zielankunft in mir.
So biete ich ihr meinen Schlauchreifen nicht an und schiebe die letzten Meter nach oben, schwinge mich auf mein Rad und trete in die Pedale. Die restlichen Schotterstücke sind alle machbar und dann gibt es endlich wieder Asphalt. Mittlerweile quietscht die Schaltung erbärmlich und von den 32 Speichen in den Laufrädern sind vielleicht gerade noch fünf nicht locker. Ich mache mir etwas sorgen ob ich es überhaupt bis ins Ziel schaffe ohne das mir die eine oder andere Speiche reißt.
Ich fahre in den Abfahrten einen Hauch vorsichtiger und beschließe mir an der nächsten Verpflegungsstation einen Speichenschlüssel zu besorgen und die Dinger etwas nachzuziehen.
Als ich in Castelnuovo B.GA ankomme ist recht viel los an der Station. Ich hole mir den Stempel und was zu essen, mache nochmal die frisch gefüllten Flaschen sauber und will dann zu den Mechanikern, aber da ist eine große Schlange. Kein Wunder bei so einer Materialschlacht. Ich beschließe weiter zu fahren und es mit den losen Speichen zu riskieren, es sind ja nur noch ca. 40 Kilometer.
Auf Asphalt geht es weiter, das Wetter ist weiterhin wechselhaft. Wenn die Sonne kommt wird es im Wolltrikot sofort recht warm, so bin ich eigentlich ganz froh, dass es eher kühl ist, auch wenn es an den Labstationen natürlich schöner wäre dort bei strahlendem Sonnenschein etwas zu ruhen.
Die Räder eiern etwas und in den Abfahrten fühlt es sich etwas schwammig an, aber die Beine funktionieren weiterhin erstaunlich gut und treten die 42-23 an den Anstiegen tapfer durch. Allerdings zähle ich auch schon seit der 150 Kilometer Marke rückwärts und motiviere mich mit „noch 50“, „noch 40“ usw.
Der Asphaltabschnitt ist recht lange, was gut tut, aber dann kommen wieder Schotterstrecken, die jetzt gegen Ende des Rennens doch deutlich mehr in den Knochen ankommen als am Anfang. Auch meine Hände haben etwas Kraft gelassen, man muss die Bremse doch ganz schön kräftig packen. Mit der Bremswirkung kam ich aber bis jetzt, auch in den schwierigen Passagen, gut zurecht.
Nachdem eine Zeit lang recht viele Fahrer auf der Strecke waren lichtet es sich jetzt wieder. Liegt auch daran, dass ich immer noch mein „Mindesttempo“ fahre und sich überhaupt keine Gruppen bilden, zumindest nicht mit dem Zweck Windschatten zu fahren und Kraft zu sparen.
Der Schlussabschnitt zieht sich sehr, mittlerweile bin ich auch platt, ich würde jetzt so langsam gerne ankommen. Das Schöne ist, dass ich jetzt ziemlich sicher bin im Hellen anzukommen, denn im Dunkeln erschöpft noch irgendwelche unbekannten Schotterstraßen runterzujagen schien mir nicht so verlockend. Falls ich tatsächlich ankomme und die Laufräder durchhalten natürlich.
Die Steigungen sind jetzt nicht mehr so brutal, aber noch merklich. Manchmal schalte ich aber gar nicht in den kleinsten Gang, ich habe mich schon sehr an dieses Powern im dicken Gang gewöhnt. Ein Fahrer überholt mich und ich überhole ihn immer mal wieder, das gibt nochmal etwas Motivation und als mal wieder eine etwas längere Steigung kommt kann ich ihn hinter mir lassen. Am Ende des Anstiegs fahre ich an einem Schweizer vorbei, der aber wohl trotz entsprechendem Trikot doch Deutscher ist. Ich unterhalte mich kurz mit ihm und bringe meine Hoffnung zum Ausdruck dass es jetzt bald vorbei ist (KM 190), aber er meint, die Kilometerangabe würde sowieso nicht stimmen, sein GPS sagt die Strecke sei knapp 220 Kilometer lang. Danke für die Aufmunterung, Blödsinn, was interessiert mich sein GPS.
Dann kommt das Schild „Gaiole in Chianti“, cool bald ist es vorbei, noch schön den Berg runterrollen und es ist geschafft. Aber hatte Bernd nicht noch was von unangenehmer Abfahrt im Dunkeln auf Schotter erzählt. Dann müsste ja nochmal ein Umweg über Schotterstraßen kommen. Es folgt der Anstieg nach Radda. Ächz, so langsam gehen mir die Körner aus. Die Übersetzung fordert ihren Tribut.
Der Anstieg zieht sich elend, immer wieder denke ich das war’s jetzt, dann geht es nach der nächsten Kurve wieder berghoch, und wieder und nochmal. Dann aber ist Radda endlich erreicht, jetzt kommt das ersehnte Rollen ins Ziel. Falsch, nochmal biegen wir anders ab als es die einfache Autoroute vorgeben würde. Es geht schon wieder berghoch, ich muss fluchen. Auf in den Wiegetritt und hochgekämpft, Abzweig, Schotterstraße, ächz, ich bin platt. Dann aber zur Belohnung nochmal ein Bilderbuchtoskanapanorama bei tiefstehender Sonne. Hammer!
Auf Schotter geht es nun bergab in Richtung Gaiole. Die Laufräder sollten doch jetzt die paar hundert Meter auch noch aushalten. Jetzt nur nicht stürzen. Als wir wieder Asphalt erreichen gibt es keine Schilder mehr, ich finde es etwas verwirrend, muss zweimal die Leute am Straßenrand fragen.
Steil führt die Straße in den Ort hinunter, und dann die letzten Meter. Vor mir eine größere Gruppe die ins Ziel trudelt, ich ziehe durch, ich will jetzt auch unter der zwölf Stunden Marke bleiben. Und dann ist es endlich geschafft. Sehr geil. Ich habe die lange Strecke der Eroica mit 42-23er Übersetzung gemeistert. Zur Belohnung gibt es ein Blechschild, eine Tasse und ein Finisherfoto.
Es fühlt sich wirklich gut an. Ein Gefühl der Zufriedenheit stellt sich ein, nicht nur über die geschaffte Distanz, nicht nur, dass ich nun auch die Eroica als Event in mein Palmarès schreiben kann, sondern auch darüber, dass ich diese gesamte, durchaus schwierige NachRAAM-Saison sturzfrei und letztlich auch sehr befriedigend zu Ende gebracht habe.
Jetzt will ich nur noch unter die Dusche und den ganzen Dreck abwaschen, aber erst muss ich zwei Cappuccini und zwei Brioche reinhauen sonst kippe ich hier um. Dabei kann ich zärtlich auf mein verschlammtes Koga Miyata FullPro schauen. Es hat durchgehalten. Auch die Laufräder. Ein sehr geiles Rad, die Schaltung hat perfekt und butterweich funktioniert, der Rahmen ist ein Traum, ich sitze darauf sehr gut, vielleicht sollte es nicht unsere letzte gemeinsame Unternehmung sein…
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